Bücher-Revue I

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Ralf Peters

 

IRWEGK Bücher-Revue I

 

In der Bücherrevue für den IRWEGK (Institut zur Rettung der Welt aus dem Geiste der Kunst) stelle ich Bücher und Texte vor, in denen es meiner Ansicht nach Material zu finden gibt, dass auf der Suche nach neuen Wegen in die Zukunft hilfreich sein könnte. Ich lese die Schriften dabei mit der Frage im Hinterkopf: Gibt es etwas über die Rolle zu lernen, die die Kunst bzw. der Geist der Kunst bei der „Rettung der Welt“ spielen könnte?

 

 

 

Annette Kehnel: Wir konnten auch anders[1]

 

 

 

Das ist ein Buch, in dem Strategien und Praktiken vorgestellt werden, mit denen in mittelalterlichen und vormodernen Zeiten Nachhaltigkeit, Gerechtigkeit und Gemeinnützigkeit gefördert wurden. Man erfährt etwa, dass die Papierherstellung lange Zeit ein Recyclingprozess von alten Kleidern, sogenannten Hadern war, dass die Beginen eine komplexe Vielfalt von Sharing Communities darstellten oder dass der Mikrokredit keine Erfindung des 20. Jahrhunderts ist, sondern schon im Mittelalter ein Instrument war, mit dessen Hilfe die Mehrheit der Menschen, die nicht auf ein eigenes Vermögen zurückgreifen konnten, die Teilnahme am wirtschaftlichen Leben ermöglicht wurde.

 

 

 

In vieler Hinsicht scheint sich die lange vorherrschende Sicht auf die vermeintlich dunklen und irgendwie primitiven Zeiten des Mittelalters in der Geschichtswissenschaft gerade zu verändern. Hervor tritt das Bild einer Epoche, die sehr viel komplexer war als sie in der Moderne üblicherweise dargestellt wurde. Und sie hatte gegenüber der kapitalistischen Epoche den großen Vorteil, dass in die Erwägungen zu Fragen des Wirtschaftens, der Gesellschaft und des Umgangs mit der Natur ein viel größeres bzw. umfassenderes Bild betrachtet wurde als in der vermeintlich fortschrittlicheren Moderne, in der es in der Regel nur noch um Gewinnmaximierung ging und in der die Schäden und der Raubbau an Natur und Mensch einfach weitgehend ignoriert wurden/werden.

 

 

 

Mit Max Scheler gesprochen war in der Vormoderne der herrschende Geist noch nicht kapitalistisch; der ideologische Überbau der Gesellschaft war an religiösen und ethischen Vorgaben orientiert. Hier kommen wir der Frage nach der Rolle von Kunst für die Rettung der Welt zumindest nahe. Das mittelalterliche und vormoderne Weltbild lässt sich nicht wiederherstellen – das wäre auch nicht wünschenswert – und das kapitalistische Weltbild hat uns an den Rand des Zusammenbruchs des Ökosystems Erde gebracht. Wir brauchen also unbedingt ein neues ethisches Koordinatensystem. Der Blick auf die klugen und hochkomplexen Strategien, die es in vormodernen Zeiten bereits gegeben hat, zeigt uns Modernen, dass es jenseits des Kapitalismus gute Weltbilder geben kann, die den komplexen Herausforderungen unserer Zeit sogar angemessener begegnen als die sogenannte rationalistische Welt des Kapitalismus. Meine These, die so in dem Buch von A. Kehnel nicht zu finden ist, lautet, dass die Kunst den Raum darstellt, in den sich viele dieser Ideen und Weltverständnisse, die vor der Moderne den Mainstream darstellten, zurückgezogen haben. Dort finden wir sie heute in einer Form wieder, die sie anschlussfähig macht, ohne dass man sich der Gefahr der Nostalgie aussetzt.

 

 

 

Ganz oben auf der Liste der Gedanken und Konzepte, die sich weitgehend in das Reservat der Kunst zurückgezogen haben, steht für mich das dialogische Weltverhältnis. Damit meine ich ein Verständnis der Welt und allem in der Welt gegenüber, nach dem alles spricht – oder vielleicht eher singt! Nicht unbedingt zu mir oder den Menschen, aber doch in einer Weise, die von uns gehört und wahrgenommen werden kann. Wenn ich mit dieser Vorstellung auf die Welt blicke bzw. in der Welt agiere, dann nehme ich mich selbst in einem hochkomplexen Geflecht von Weltverhältnissen wahr, die alle miteinander interagieren. Anders als in einem kapitalistischen Weltverständnis, das gelernt hat, alle (Gewinn) störenden Aspekte der Welt auszulagern, sind Künstler und waren mittelalterliche Menschen sich immer der Eingebundenheit in die Welt bewusst. Daraus entstehen ethische Verpflichtungen, die man nicht ignorieren darf.

 

 

 

Zu dieser Weltsicht gehört auch, dass das dialogische Verhältnis sich in die Zeit hinein erstreckt, d.h. ich bin mit der Vergangenheit (z.B. in Form meiner Ahnen) und mit der Zukunft ebenfalls in einem Dialog verbunden. Für den Rationalisten des 18. und 19. Jahrhunderts klingt das nach abergläubischem Humbug, erst das 21. Jahrhundert, das vor den Trümmern einer rein rationalistischen bzw. kapitalistischen Weltbetrachtung steht, muss lernen, wieder das große Bild zu sehen und das große Konzert zu hören. Dafür gibt es in dem Buch von A. Kehnel einiges zu lernen.

 

 

 

Die Kunst selbst (?) kommt nur am Rande vor, wenn etwa erwähnt wird, dass im Italien der frühen Neuzeit die Werke nicht zuletzt der großen Renaissancekünstler wie Michelangelo durch Ablasshandel finanziert wurden, eine Praktik, die unserem Crowdfunding sehr ähnlich gewesen ist. Ansonsten ist Kunst nicht das Thema des Buches und die Praktiken der modernen Kunst haben sich erst mit und nach der Renaissance herausgebildet. Vorher bedurfte es der Kunst nicht, um bestimmte heute fast vergessene Formen des Weltverhältnisses ins Leben zu integrieren.

 

 

 

Kurz und gut: Annette Kehnels kurze Geschichte der Nachhaltigkeit „Wir konnten auch anders“ ist zwar kein Buch, das den Geist der Kunst als Thema hat. Als Materialsammlung zu Praktiken, die den Geist der Kunst im modernen Sinne noch nicht benötigten, um die bessere Alternative zum zerstörerischen Kapitalismus darzustellen, ist es unbedingt empfehlenswert.

 

 

 



[1] A. Kehnel: Wir konnten auch anders. Eine kurze Geschichte der Nachahltigkeit, Sonderausgabe für die bpb, Bonn 2021

 

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