Die Rettung der Welt in zeiten transzendentaler Gefährdungen
Wenn im IRWEGK von der Rettung der Welt die Rede ist, liegt die Frage nahe, was mit der Welt in diesem Zusammenhang eigentlich gemeint sein soll. Daraus ergeben sich erst die Optionen für ihre Rettung.
Eine moderne philosophische Definition stammt von Ludwig Wittgenstein: Die Welt ist alles, was der Fall ist. In dieser Definition ist die Welt und alles, was es in ihr gibt, bestens zugeschnitten für eine wissenschaftliche Erforschung, eine technische Nutzung und kapitalistische Ausbeutung. Ein echtes Kind seiner Zeit Anfang des 20. Jahrhunderts, könnte man sagen. Was darin fehlt ist allerdings der Bezug zum Menschen. Die Welt wird zum reinen Objekt und die Verwobenheit von Mensch und Welt zugunsten einer vermeintlichen wissenschaftlichen Objektivität ausgeblendet. Das ist in einer anderen Bestimmung der Welt, die ein paar Jahre nach der von Wittgenstein entstanden ist, anders. Edmund Husserl spricht Ende der 1930er Jahre von der Lebenswelt und meint damit den unbefragten Boden jedes menschlichen Handelns und Denkens, alles das, was wir als selbstverständlich voraussetzen, ohne dass es für diese Voraussetzung einen bewussten Akt geben müsste. Die so verstandene Lebenswelt ist zwar auch nur ein Ausschnitt aus dem, was man Welt nennen kann. Besonders der für unsere Zeit so wichtige Aspekt der Natur kommt bei der Lebenswelt schnell zu kurz. (Karriere hat die Lebenswelt dementsprechend eher in der Soziologie und bei Jürgen Habermas gemacht.) Mich interessiert dieser Begriff, weil ich vermute, dass der unbefragte Boden, von dem da die Rede ist, sich gegenwärtig auf verschiedene Weise aufzulösen scheint.
Und damit komme ich zu den transzendentalen Gefährdungen aus dem Titel. Transzendental ist ebenfalls ein Wort aus der Philosophie, genauer aus der Erkenntnistheorie von Immanuel Kant. Ihm geht es darum, die "Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis" zu analysieren und den Bereich, wo man diese Bedingungen findet, nennt Kant transzendental. Für Kant sind die Bedingungen, die uns – dem Menschen und theoretisch allen vernünftigen Wesen – ermöglichen, die Welt wahrzunehmen und zu erkennen, die Strukturelemente des Geistes oder der Vernunft. D.h. sie sind alle in uns zu finden. Kant fehlte noch die Erkenntnis (!), dass diese Strukturelemente auch sozial determiniert sind. Die Lebenswelt, in der ich lebe, bestimmt mit, wie ich meine Welt wahrnehme, deute und erkenne. Deshalb wird übrigens so etwas wie Kunst als soziale Praxis möglich.
Meine These lautet jetzt: Der unbefragte Boden, auf dem wir unsere moderne Welt aufgebaut haben, bekommt in unserer Epoche Risse, die bis vor nicht allzu langer Zeit unvorstellbar gewesen wären.
Wir leben in einem Zeitalter der transzendentalen Gefährdung? Die Bedingungen der Möglichkeit unserer "Welt" sind unter Druck. Nicht im subjektphilosophischen Sinne Kants, sondern sozusagen auf der ontologischen Ebene. Dafür will ich zwei Beispiele anbringen:
Der Klimawandel ist dabei, die Grundlagen unserer Art des Zusammenlebens in der Moderne anzugreifen. Bis vor kurzem war die relative Stabilität des Weltklimas Teil des selbstverständlichen Fundamentes für die menschlichen Aktivitäten auf unserem Planeten. Doch jetzt wissen wir, dass das Klima bzw. die klimatische Stabilität durch unsere Art des Umgangs mit der Welt nicht mehr selbstverständlich ist und mögliche Veränderungen sogar das Potenzial bergen, unsere Lebensgrundlagen schwer zu erschüttern. Die Welt wird zu einem gefährlichen Ort, wo Lebensstrukturen, die auf einer gewissen Sicherheit basieren, nicht mehr funktionieren. Ich glaube, man muss sich erst noch klar machen, wie tiefgehend die Verunsicherungen unseres Weltverständnisses durch den Klimawandel sein werden. Es geht nicht nur darum, dass eine Möglichkeit, die uns lange offenstand, sich nun verschließt. So wie in Autos der Verbrennungsmotor bald nicht mehr zu den akzeptablen Optionen gehört und vom Elektromotor abgelöst wird. Beim Klimawandel verschließt sich nicht eine Möglichkeit, sondern durch die Erwärmung der Erde verändern sich die Bedingungen, aus denen überhaupt erst Möglichkeiten des Handelns und Lebens entstehen können. Deshalb herrscht gerade in der jungen Generation soviel Wut und Verzweiflung. Statt die in der Jugend anstehende Frage zu stellen, wie ein gutes Leben gelingen kann, müssen die jungen Leute versuchen, die Bedingungen zu schaffen oder zu erhalten, die die Frage überhaupt noch zulassen und mit der Gefahr leben, dass die Bedingungen, die ein gutes Leben, so wie sie es vorhaben, für sie nicht mehr gegeben sein werden. Das ist eine dramatische Situation. Der belgische Choreograph Guy Cools hat in einem Vortrag kürzlich berichtet, dass junge Kunststudierende in Workshops, in denen es um Trauer geht, als Aspekt ihres Lebens, der zu betrauern ist, oft ihre Zukunft wählen. Die Zukunft, die sie hätten haben können, wenn die Bedingungen ihrer Möglichkeit nicht durch Klimawandel und andere ökologischen Desaster verloren gegangen wären.
Das zweite Feld der Auflösung der Bedingungen der Möglichkeit der Welt ist etwas näher an dem dran, was Kant umtrieb. In Auflösung begriffen ist gerade der gemeinsame Boden für das, was wir die Realität nennen. Die grundlegende Übereinstimmung zum Charakter von Faktischem hat sich verabschiedet. Die allgemein bekannten Stichworte für dieses Phänomen heißen Fake-News, alternative Fakten oder Querdenker. Die argumentative Auseinandersetzung über die Bewertung dessen, was ist, verliert offenbar gerade ihre Basis, die zugleich Fundament einer demokratischen Gesellschaftsordnung darstellt. Wir stimmen nicht mehr darin überein, was wir wahr oder wirklich nennen wollen. Wir sind in Gefahr, die Kriterien zu verlieren, die uns helfen, über einen Sachverhalt übereinzustimmen. (Zeigt sich hier, nebenbei gesagt, dass es der Erkenntnislehre Kants an Welthaltigkeit mangelt? Denn das Problem kann man kantisch gar nicht formulieren. Doch ohne diese gemeinsame Grundlage oder die Übereinstimmung zu dem, was ich wahr, gut begründet etc. halte, löst sich am Ende die Idee des vernünftigen Wesens auf, um das es Kant ja ging.)
Die Kunst ist wohl noch mehr als die Philosophie der Ort, um diese Auflösungserscheinungen der Lebenswelt zu thematisieren. Mit der Philosophie gemein hat die Kunst in ihrer modernen Spielart einen Hang zur methodischen Reflexion auf das eigene Tun. Die moderne Kunst ist sich selbst thematisch. Dieser Reflexionsüberschuss, der die Philosophie seit ihren Anfängen begleitet, übt darin ein, Selbstverständliches fragwürdig zu machen. Künstler*innen der Moderne haben also schon immer bislang unbefragte Grundlagen des Handelns befragt und Strategien der Übereinstimmung bezweifelt. Sie wissen also, worauf man sich da einlässt. Das ist nichts für schwache Nerven. Zugleich ist die Thematisierung dieser grundlegenden Probleme in Kunstwerken ein Weg, diese Probleme überhaupt ins Bewusstsein zu rufen. Denn in den modernen Gesellschaften fungiert Kunst als ein Spiegel dieser Lebenswelten.
Zur Rettung der Welt aus dem Geiste der Kunst (IRWEGK) können Künstler*innen noch auf andere Weise beitragen. Kunstschaffende kennen sich oft aus mit den Phänomenen von Verletzlichkeit und Fragilität, die eng verbunden sind mit einer gut ausgebildeten Sensibilität. Trotz aller Versuche, Sicherheit und Stabilität herzustellen, zeigt sich die Fragilität als eine unüberwindbare Bedingung der Möglichkeit des Menschseins. Diese Erfahrung anschaulich und greifbar zu machen, gehört zu den modernen Motivationen für künstlerisches Schaffen. Dabei geht es immer um mehr als nur die eigene persönliche Befindlichkeit. Verletzlichkeit ist eine anthropologische Konstante. Zu einer humanen Gesellschaft gehört die Bereitschaft, die Verletzlichkeit der anderen in meine Lebensform als Bedingung zu integrieren. Selbst im Falle, dass ich mich in einem Teilaspekt des Lebens gar nicht verletzlich fühle. Die Philosophin Svenja Flaßpöhler hat das gerade folgendermaßen ausgedrückt:
Der Sinn für die Verwundbarkeit des anderen ist es, der den Kern der Humanität und die Triebkraft für gesellschaftliche Transformation darstellt. Wer hingegen die individuelle Widerstandskraft zum obersten und alleinigen Prinzip erklärt, übersieht das Leid der anderen und verfestigt diskriminierende Strukturen.
Svenja Flaßpöhler, Sensibel, zitiert aus Der Freitag, 28.10.21, S. 29
Ein gutes Schlusswort für heute…
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