Die Proteste in Frankreich und die Idee der Arbeit im Kapitalismus – im Geiste der Kunst betrachtet.

 

Die massiven Proteste in Frankreich gegen die Rentenreform der Regierung Macron stoßen in anderen Ländern Europas auf eine Mischung aus Sympathie und Unverständnis. Die dort drohende Rente mit 64 scheint etwa für deutsche Verhältnisse wie aus einer anderen, goldeneren Zeit zu stammen. Dabei wird oft übersehen, dass die entscheidende Zahl bei dieser Reform die Anzahl der rentenpflichtigen Arbeitsjahre ist, die so hoch ausfällt, dass kaum ein Franzose oder eine Französin in den Genuss einer vollen Rente kommen kann.

 

Doch darunter liegt meiner Vermutung nach noch ein anderer Konflikt, der tatsächlich tiefgreifender ist. Meine These dazu lautet: Die französischen Arbeitnehmer*innen wehren sich mit den Protesten zwar nicht gegen den Kapitalismus als solchen (dafür sind sie wie alle anderen Europäer*innen viel zu sehr wohlgeformte Konsument*innen), aber sie wehren sich dagegen, dass die „protestantische“ Form des Kapitalismus auch in ihrem Land die Oberhand gewinnt. Max Webers Theorie, nach der der Kapitalismus die entscheidenden Impulse aus der protestantischen Ethik bezogen hat, ist zwar nicht falsch, unterschlägt aber weitgehend, wie wichtig die Entwicklungen in den katholischen Ländern der frühen Neuzeit für die Entstehung eines kapitalistischen Geistes gewesen sind. Die Erfindung der Finanzwirtschaft in Italien, der Merkantilismus in Frankreich oder das Konzept der systematischen Ausbeutung, das die spanischen Eroberer in der sogenannten Neuen Welt erfolgreich erprobt haben, sind einige Beispiele für den Beitrag des katholischen Europa für die Entstehung des dunklen Zeitalters des Kapitalismus, das die Menschen in weiten Teilen der Welt ins Elend gestürzt hat.

 

Doch worin besteht dann der Impuls, gegen den sich in den katholisch geprägten Ländern immer wieder Protest regt? Meiner Vermutung nach richtet sich dieser Widerstand gegen die dezidiert protestantische Arbeitsmoral, die es so in katholischen Regionen nicht gegeben hat – mit Ausnahme von den Klöstern: ora et labora! Denn für die protestantische Ethik ist Arbeit im Prinzip Gottesdienst! Für die säkulare Version bedeutet dies, dass Arbeiten an sich einen hohen Wert für den Menschen besitzt, statt als bloß notwendiges Übel zur Sicherung der eigenen Existenz betrachtet zu werden. Diese vor der Reformation weitgehend unbekannte Ethik der Arbeit ist über den Protestanten Marx übrigens ungefiltert in den Sozialismus und Kommunismus übernommen worden.

 

Die meisten europäischen Regierungen inklusive der EU haben sich längst dem protestantischen Arbeitsethos verschrieben, weil es am besten den Notwendigkeiten des Neoliberalismus nachkommt. Doch in der Bevölkerung zumindest einiger Länder, und dort oft denen mit einer katholischen Vorgeschichte, regt sich noch immer Widerstand gegen eine Marginalisierung des „savoir vivre“ zugunsten eines nur noch Arbeit im Sinne habenden Regimes.

 

Der Geist der Kunst ist dem katholischen Denken natürlich sehr viel näher als dem protestantischen Arbeitsbegriff. Kunst macht zwar, wie wir von Karl Valentin wissen, viel Arbeit, aber die Arbeit, die da anfällt, würde kapitalistisch betrachtet oft gar nicht zählen. Die Welt beobachten, warten, zuhören, nachdenken, schlendern – all diese und viele andere Tätigkeiten, die für Künstler*innen substanziell sein müssen, werden im Arbeitsbegriff des protestantischen Kapitalismus in die Ecke der „Freizeit“ abgedrängt. Eine absurde Logik, die zeigt, wie lebensfern der Geist des Kapitalismus ist.

 

Aus dem Geist der Kunst jedenfalls schließen wir uns der Forderung nach weniger statt mehr kapitalistisch nützlicher Arbeit an, allerdings mit dem Zusatz, dass wir auch weniger konsumieren! Denn nur dann gewähren wir der Welt und den Menschen endlich wieder die Luft, die sie zum Atmen und Gedeihen benötigen. Die Reform unseres Arbeitsbegriffes hat also das Zeug, zur Rettung der Welt einen wichtigen Beitrag zu liefern.

 

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Kommentare: 2
  • #1

    Priska Mielke (Mittwoch, 19 April 2023 15:59)

    Danke für diese sehr differenzierte Einordnung der Proteste in Frankreich! Als Protestantin und im Geiste der Pflichterfüllung Erzogene habe ich diese Form der Arbeitsmoral zwar quasi in die Wiege gelegt bekommen und für mich persönlich ist Arbeit ein wesentlicher, sinnstiftender - und ja! - auch erfüllender Bestandteil meines Lebens. Ich bin mir aber zum einen dessen bewusst, dass ich damit zu den wenigen Glücklichen gehöre, für die es keiner strengen Trennlinie zwischen "Leben" und "Arbeit" bedarf, weil meine Arbeit zu mir und meinem Leben gehört, zum anderen erkenne ich, dass Kunst und Kreativität Freiräumen bedürfen. Zeiten und Orten, die herausgenommen sind aus dem Effizienzdenken, den Kosten-Nutzen-Rechnungen und dem Postulat der leichten Konsumierbarkeit. Der Gegensatz zwischen Kapitalismus und "savoir vivre" ist allerdings nur ein Aspekt der Proteste. Meiner Meinung nach noch beängstigender ist die Art und Weise, wie Macron "seine" Rentenreform durchgesetzt hat. Selbst für eine sehr auf das Präsidentenamt zugeschnittene Demokratie wie Frankreich war dieses Vorgehen zumindest grenzwertig. Das Gefühl, nicht gehört und in seinen Befürchtungen nicht wahrgenommen zu werden, treibt die Demonstrant*innen wohl mindestens ebenso auf die Straße wie die Anhebung des Renteneintrittsalters als solche.

  • #2

    Ralf Peters (Mittwoch, 19 April 2023 16:07)

    Hallo Priska,
    vielen Dank für deinen Kommentar! Was Macron betrifft, bin ich ganz auf deiner Seite. Mir ging es nicht so sehr um die konkret politischen Umstände, die für die Situation natürlich entscheidend sind. Die Trennung zwischen Leben und Arbeit würde ich eben auch als Resultat des kapitalistischen Denkens betrachten. Und ja, vieles, was wir heute Arbeit nennen, kann erfüllend und sinnstiftend sein!